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Ein Jahr im Engadin: "Pflicht" x Leidenschaft (The beginning, Part I)

In dieser Serie möchte ich über das Leben in einem der höchsten Täler der Schweiz schreiben. Dabei gehe ich auf verschiedenste Themen ein: der Alltag, die Arbeit, das Training.


Anreise

Ins Engadin reise ich jeweils mit dem Zug an, zumal die Strecke von Thusis nach St. Moritz zum UNESCO Weltkulturerbe gehört. Der Zug kreist erst durchs Albulatal über das Landwasserviadukt und sticht am höchsten Punkt in den im Jahr 1903 erbauten Albulatunnel. Wieder am Tageslicht, befindet man sich im Bevertal, eine meiner liebsten Trainingsstrecken.

Wenn ich bei Spinas, der Haltestelle im Bevertal, durchgefahren bin, weiss ich, dass es nicht mehr lange geht, bis ich in Samedan bin. Ich habe mich immer schon gefragt, ob die deutsche Aussprache "Samade" richtig sei. Die Einheimischen haben mir bestätigt, dass der Ortsname auf Deutsch tatsächlich so ausgesprochen werde. Auf Romanisch hingegen sage man Samedan mit Betonung auf dem e. Aber Achtung, die Betonung auf dem zweiten a ist in jedem Fall falsch und ist nicht gern gehört.


Samedan

In diesem von der Eisenbahn geprägten Dorf wohne ich nun für ein Jahr. Samedan ist der Hauptort des Oberengadins und ist Dreh- und Angelpunkt im Oberengadin. Von hier gelangt man nämlich sowohl nach Pontresina (Richtung Berninapass) als auch nach St. Moritz (Richtung Maloja- und Julierpass). Der Albulapass, der in La Punt abzweigt, ist ebenfalls nicht weit entfernt. Keine Überraschung, dass Samedan strategisch wichtig war und immer noch ist. Unterhalb des Dorfes liegt darüber hinaus der Flugplatz. Dieser ist besonders im Sommer stark frequentiert. Im Cho d'Punt, dem Industriequartier, befinden sich ähnlich viele Einkaufsmöglichkeiten wie in der Zürcher Bahnhofstrasse. Nebst einem neuen Migros kann man auch im Coop, Aldi, Denner sowie Avec einkaufen. Zumindest blieb dadurch der malerische Dorfkern Samedans, welcher am Hang liegt, unberührt. Mein Zuhause befindet sich am Ausgang des Dorf Samedans Richtung Bever, direkt neben dem Spital Oberengadin.


Promulins

Als ausgebildeter Banker hatte ich doch ziemlich wenig mit der Pflege von betagten Menschen zu tun. In meinem Zivildienst sollte sich dies nun ändern. Zu Beginn konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich im Pflegeheim viel Verantwortung übernehmen würde, da ich von der Pflege nicht viel Ahnung habe und mich eher als zurückhaltend beschreiben würde, wenn es um Berührungen und Pflege von Anderen geht.

Das Team, wie auch die 19 Bewohner:innen nahmen mich allerdings herzlich auf. Mit Vielen fand ich direkt einen Draht und lernte ihre Lebensgeschichten und aktuellen Beschwerden / Krankheitsbilder kennen. In meiner betreuenden Rolle fühle ich mich überraschend wohl. Auch vor kleineren, pflegerischen Tätigkeiten schrecke ich nicht zurück. Manchmal frage ich mich sogar, ob dies nicht ein Beruf für mich wäre. Relativiere - solche Gedanken tauchen bei mir freilich schnell auf, da ich ein sehr breites Interessensspektrum habe. Trotzdem ist dies ein gutes Zeichen und zeigt, dass ich mich wirklich wohl fühle.

Im Promulins durfte ich bereits viele berührende und amüsante Momente erleben. Nebenbei erkenne ich aber auch die harte Realität des Altwerdens - ganz nach dem Sprichwort einer 94-jährigen Dame: Alt werden sei ein Geschenk, nur die Verpackung sei nicht ganz so gut. Auch der Fachkräftemangel ist im Oberengadin Thema. So fehlen vor allem dipl. Pflegefachfrauen -und Männer im Pflege- und Altersheim.

Meine speziellen Wünsche, was die Dienste anbelangt, wurden von der Leitung allesamt erhört. Die ersten drei Monate durfte ich von 09:30 - 18:30 Uhr für die Bewohner:innen da sein, was für mich trainingstechnisch absolut perfekt war. Auf meinen Wunsch wurde mein Dienstplan sogar so angepasst, dass ich immer dienstags und samstags frei habe. Somit konnte ich mich immer voll auf die härteren Trainings fokussieren und mich optimal erholen. Ab Mitte September arbeite ich nun von 11:30 - 08:30 Uhr, da es am Morgen etwas kühl und dunkel wurde. Vor allem im Winter bin ich froh, dass ich erst um ca. 09:00 Uhr in die Kälte raus muss, wenn die Sonne den Schatten in der Talsohle langsam verdrängt. Diese Flexibilität der Führung sehe ich absolut nicht als selbstverständlich an und bin sehr dankbar dafür. Dies war mit ein Grund, weshalb ich mich nach rund zwei Monaten im Promulins entschieden habe, meinen sechs- monatigen Einsatz auf zwölf und damit die maximale Länge auszuweiten. Die Pflicht, einen Zivildiensteinsatz zu leisten, wurde nach dieser kurzen Zeit zu einer Herzensangelegenheit. Das Wort "Pflicht" im Titel ist deshalb bereits in Gänsefüsschen gesetzt.


Training

Der eigentliche Grund, weshalb ich im Oberengadin meinen Zivildiensteinsatz leiste, habe ich bisher noch nicht thematisiert. Ein weiteres Indiz dafür, dass mir das Drumherum genau so wichtig wurde, wie das Training selbst.

Mit der Entwicklung im Training bin ich sehr zufrieden. Ich vertrage viele Trainingskilometer und die angepeilten Intervallzeiten erreiche ich in aller Regel. Viele Dauerläufe mache ich zwischen Celerina und La Punt. Hier gibt es eine wunderschöne Auenlandschaft, welche durch die Revitalisierung des Inns entstanden ist. Unzählige kleine Weglein führen durch das breite Tal und machen es für mich zu einem Trainingsparadis. Von den Ferien im Oberengadin kannte ich vor allem die Seewege von St. Moritz bis Sils Maria sehr gut. Das Tal zwischen Flaz und Inn ist allerdings genau so imposant. In St. Moritz bin ich trotzdem noch ein bis zweimal pro Woche für das Intervalltraining auf der beliebtesten Leichtathletikbahn weltweit. Im Sommer trainierte ich zusammen mit Weltstars, was zugleich ernüchternd und faszinierend war. Ab und zu ist mir 1'800 m.ü.M. zu wenig hoch. An solchen Tagen nehme ich die Bahn nach Corviglia und trainiere rund um den Lej Alv auf 2'525 m.ü.M. Diese Tage gehören zu den absoluten Highlights. Die Ruhe, der blaue See und die unglaublich imposante Aussicht machen es zu einem unvergesslichen Erlebnis. Ohne Zweifel gehört dieser Ort zu meinen liebsten Plätzen auf dieser Erde. Die schier unendliche Weite lässt alles Andere klein erscheinen und holt mich gewissermassen zurück auf den Boden.

À propos unvergessliche Erlebnisse - von diesen hatte ich hier oben schon unzählige: Seien es die Läufe ins Val Roseg oder Val Bever, der Speed Hike nach Muottas Muragl oder Lej Alv, die Dauerläufe entlang des Inns und Flazs in der Engadiner Morgensonne bis hin zu den Longjogs im Stazer Zauberwald.


Ausblick

Nach Sarnen ist vor Lugano. Am 23. September reise ich für ein Wochenede nach Lugano - zum zweiten Mal in Folge. Eigentlich habe ich mir letztes Jahr geschworen, dass ich diesen Lauf nie wieder mache werde, da es dort meistens zu warm für mich ist. Sarnen hat jedoch gezeigt, dass Wettkämpfe das beste Training sind, auch wenn die Zeit nicht das ist, was ich mir wünsche.

Mitte Oktober reise ich zusammen mit meinem Mami nach Berlin. Nicht nur werden wir zusammen alle Museen und Kaffees der Hauptstadt abklappern, nein, dort werde ich nach 9 Tagen Akklimatisation den Great 10k Berlin unter die Füsse nehmen und meine PB (hoffentlich) pulverisieren. Im Oktober bin ich kaum im Engadin, denn nach Berlin ist vor Rapperswil, wo ich ebenfalls nochmals einen 10er bestreiten werde. Nach meinem Kurs in Schwarzsee reise ich Ende Oktober zurück nach Samedan und geniesse die Off-Season im vielleicht schon verschneiten Oberengadin.

Nun sind es noch drei Trainingswochen im Oberengadin, bevor der Oktober anbricht und es so allmählich ernst gilt. Mein Herz klopft jetzt bereits schneller, wenn ich an die Startlinien denke. Es wird sich ein erstes Mal zeigen, ob die Höhenluft den gewünschten Fortschritt gebracht hat. Mehr dazu erfährt ihr in meinem nächsten Blog Anfang November aus der Off-Season.


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